Sonntag, 1. Mai 2011
Karlheinz Stockhausen über 9/11
andi fontaene, 22:04h
Ein faszinierendes Interview, auf das ich da gestoßen bin. Man muss dazu wissen, dass das Interview kurz nach den Anschlägen vom 11. September geführt wurde.
Karzhein Stockhausen (gestorben 2007) war deutscher Komponist.
"Hm. Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen
Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat. Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. [Zögert.] Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist.
Das sind also Leute, die sind so konzentriert auf dieses eine, auf die eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, also als Komponisten. Ich meine, es kann sein, daß, wenn ich „Freitag“ aus „Licht“ aufführe, daß da ein paar Leute im Saal sitzen, denen das passiert, was ein alter Mann mir vorige Woche gesagt hat, beim „Samstag“ nach der Aufführung:
„Na, sagen Sie mal. Zweieinhalb Stunden, da waren
doch diese unglaublich tiefen Klänge, die wie Wolken über uns schwebten und sich bewegten die ganze Zeit, die segelten und dazu dann ganz schnelle Schüsse von anderen Klängen – sagen Sie mal, was ist denn das für ein Orchester?
Ich sage: „Gar keins.“ Sagt er: „Was? Wie haben Sie’s
denn gemacht? Sie müssen das doch irgendwie machen!
Wer spielt das? Wer hat das gesungen oder gespielt?“ Ich sage: „Niemand“. „Ja, wie denn?“ Ich sage: „Mit Generatoren und Synthesizern.“ Sagt er: „Was? Dann brauchen wir ja gar kein Orchester mehr!“ Ich sage: „Nein.“ Dann lief der raus, als ob der innerlich, im Geiste gestorben wäre. Ich weiß nicht, was jetzt passiert mit dem. Und es waren mehrere Damen, die dann zu mir kamen und sagten: „Sagen Sie mal, was haben Sie denn hier?“ Und ich sagte: „Das ist ein Mischpult“. „Ja, wie geht denn das überhaupt, da kommt das alles raus?“ Ich sage: „Ja.“ – „Ja, haben Sie auch eine Partitur?“ – „Ja.“ – „Kann ich die mal sehen?“ – „Ja.“
Das waren Damen so zwischen siebzig und achtzig auf einmal, das war wahrscheinlich Abonnementspublikum fürs Bach-Festival. Die standen um mich herum. Ich sage:
„Gucken Sie her, Sie können Noten?“- „Ja, ja, wir können Noten lesen. Kann das jemand verstehen?“ Ich sage: „Ja, das kann jemand verstehen. Man muß das nur studieren“, und so. Das war eine Explosion wie für die Menschen in New York. Bum! Und ich weiß nicht, ob die jetzt woanders sind, die da plötzlich so schockiert waren. Also es gibt Dinge, die gehen in meinem Kopf vor sich durch solche Erlebnisse.
Ich habe Wörter benutzt, die ich nie benutze, weil
das so ungeheuer ist. Das ist das größte Kunstwerk überhaupt, das passiert. Stellen Sie sich mal vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen, und Sie wären alle nicht nur erstaunt, sondern Sie würden auf der Stelle umfallen. Sie wären tot und würden wiedergeboren, weil Sie Ihr Bewußtsein verlieren, weil das einfach zu wahnsinnig ist. Manche Künstler versuchen doch, über die Grenze des überhaupt
Denkbaren und Möglichen zu gehen, damit wir wach werden, damit wir für eine andere Welt uns öffnen. Also, ich weiß nicht, ob das fünftausend Wiedergeburten gibt, aber irgend so etwas. [Fingerschnippen] Im Nu. Das ist unglaublich.
Gibt es keinen Unterschied zwischen Kunstwerk und Verbrechen?
Vielleicht, aber ... Natürlich! Der Verbrecher ist es deshalb, das wissen Sie ja, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen auch niemand angekündigt: „Ihr könntet dabei drauf gehen.“ Ich auch nicht. Also es ist in der Kunst nicht so schlimm. Aber was da geistig geschehen
ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal, so poco a poco auch in der Kunst, oder sie ist nichts. [Stille.]
Sie sind alle ganz ernst auf einmal. Wo hat er mich hingebracht? Luzifer. Sind Sie denn Musiker? Selbst Musiker?
Nein.
Naja. Ist das nicht ungeheuer, was mir da eingefallen ist auf einmal. Ist ja irre. Ich habe gesagt, zehn Jahre üben für ein Konzert, und das muß es sein. Und dann – weg. [Pause]
Huuuh!
Mehrere Stimmen: Huuuh!
Schwere Kost.
Benedikt Stampa: Schluck Wasser?
Vielleicht. Ich muß ja gleich in den Saal, nicht. Mir angucken, ob die Lautsprecher richtig sind. Habt Ihr nicht was Lustiges?
Das Technische. Wie hat denn Köln gespielt?
Wie spät ist es überhaupt? Bestimmt sieben Uhr durch, nicht?
Ja, dann müssen wir auch aufhören.
Dann machen wir Schluß jetzt, ja."
Quelle: http://www.stockhausen.org/hamburg.pdf
Karzhein Stockhausen (gestorben 2007) war deutscher Komponist.
"Hm. Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen
Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat. Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. [Zögert.] Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist.
Das sind also Leute, die sind so konzentriert auf dieses eine, auf die eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, also als Komponisten. Ich meine, es kann sein, daß, wenn ich „Freitag“ aus „Licht“ aufführe, daß da ein paar Leute im Saal sitzen, denen das passiert, was ein alter Mann mir vorige Woche gesagt hat, beim „Samstag“ nach der Aufführung:
„Na, sagen Sie mal. Zweieinhalb Stunden, da waren
doch diese unglaublich tiefen Klänge, die wie Wolken über uns schwebten und sich bewegten die ganze Zeit, die segelten und dazu dann ganz schnelle Schüsse von anderen Klängen – sagen Sie mal, was ist denn das für ein Orchester?
Ich sage: „Gar keins.“ Sagt er: „Was? Wie haben Sie’s
denn gemacht? Sie müssen das doch irgendwie machen!
Wer spielt das? Wer hat das gesungen oder gespielt?“ Ich sage: „Niemand“. „Ja, wie denn?“ Ich sage: „Mit Generatoren und Synthesizern.“ Sagt er: „Was? Dann brauchen wir ja gar kein Orchester mehr!“ Ich sage: „Nein.“ Dann lief der raus, als ob der innerlich, im Geiste gestorben wäre. Ich weiß nicht, was jetzt passiert mit dem. Und es waren mehrere Damen, die dann zu mir kamen und sagten: „Sagen Sie mal, was haben Sie denn hier?“ Und ich sagte: „Das ist ein Mischpult“. „Ja, wie geht denn das überhaupt, da kommt das alles raus?“ Ich sage: „Ja.“ – „Ja, haben Sie auch eine Partitur?“ – „Ja.“ – „Kann ich die mal sehen?“ – „Ja.“
Das waren Damen so zwischen siebzig und achtzig auf einmal, das war wahrscheinlich Abonnementspublikum fürs Bach-Festival. Die standen um mich herum. Ich sage:
„Gucken Sie her, Sie können Noten?“- „Ja, ja, wir können Noten lesen. Kann das jemand verstehen?“ Ich sage: „Ja, das kann jemand verstehen. Man muß das nur studieren“, und so. Das war eine Explosion wie für die Menschen in New York. Bum! Und ich weiß nicht, ob die jetzt woanders sind, die da plötzlich so schockiert waren. Also es gibt Dinge, die gehen in meinem Kopf vor sich durch solche Erlebnisse.
Ich habe Wörter benutzt, die ich nie benutze, weil
das so ungeheuer ist. Das ist das größte Kunstwerk überhaupt, das passiert. Stellen Sie sich mal vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen, und Sie wären alle nicht nur erstaunt, sondern Sie würden auf der Stelle umfallen. Sie wären tot und würden wiedergeboren, weil Sie Ihr Bewußtsein verlieren, weil das einfach zu wahnsinnig ist. Manche Künstler versuchen doch, über die Grenze des überhaupt
Denkbaren und Möglichen zu gehen, damit wir wach werden, damit wir für eine andere Welt uns öffnen. Also, ich weiß nicht, ob das fünftausend Wiedergeburten gibt, aber irgend so etwas. [Fingerschnippen] Im Nu. Das ist unglaublich.
Gibt es keinen Unterschied zwischen Kunstwerk und Verbrechen?
Vielleicht, aber ... Natürlich! Der Verbrecher ist es deshalb, das wissen Sie ja, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen auch niemand angekündigt: „Ihr könntet dabei drauf gehen.“ Ich auch nicht. Also es ist in der Kunst nicht so schlimm. Aber was da geistig geschehen
ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal, so poco a poco auch in der Kunst, oder sie ist nichts. [Stille.]
Sie sind alle ganz ernst auf einmal. Wo hat er mich hingebracht? Luzifer. Sind Sie denn Musiker? Selbst Musiker?
Nein.
Naja. Ist das nicht ungeheuer, was mir da eingefallen ist auf einmal. Ist ja irre. Ich habe gesagt, zehn Jahre üben für ein Konzert, und das muß es sein. Und dann – weg. [Pause]
Huuuh!
Mehrere Stimmen: Huuuh!
Schwere Kost.
Benedikt Stampa: Schluck Wasser?
Vielleicht. Ich muß ja gleich in den Saal, nicht. Mir angucken, ob die Lautsprecher richtig sind. Habt Ihr nicht was Lustiges?
Das Technische. Wie hat denn Köln gespielt?
Wie spät ist es überhaupt? Bestimmt sieben Uhr durch, nicht?
Ja, dann müssen wir auch aufhören.
Dann machen wir Schluß jetzt, ja."
Quelle: http://www.stockhausen.org/hamburg.pdf
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